Es war bestimmt kein Zufall, dass ich schon am Tag nach meiner Ankunft in Kathmandu dem alten Swami Dharmjyoti begegnete. Er ist ein 82-jähriger Gelehrter. Viele Jahre führte er ein Leben als Sadhu, wie die Heiligen der Asketen genannt werden. Er hat den indischen Subkontinent von Kaschmir bis Rajasthan, von Bengalen bis ins Himalajamassiv zu Fuß durchwandert. Spricht fließend Englisch, beherrscht Sanskrit in Wort und Schrift, außerdem eine Vielzahl Hindi Dialekte und hat sein Leben der hinduistischen Götterwelt geweiht. Seine Heimat ist das Terai Gebiet, wo vor Jahrtausenden das Königreich von Mithila lag. Ich habe Swami im Hotel Vajra kennengelernt. Seinen Worten zufolge wird ihm dort seit fünfzehn Jahren freie Kost und Logis geboten, wenn er sich in Kathmandu aufhält.
Am Morgen nach meiner Ankunft betrat ich das Restaurant. Mein Blick fiel sofort auf seine abenteuerliche Gestalt. Unbeweglich wie eine Statue saß er mit überkreuzten Beinen auf einem Stuhl neben dem flackernden Kaminfeuer. Der Blick seiner pechschwarzen Augen aus denen sprühende Lebenslust und Vitalität funkelte zog mich magisch an. Wir kamen ins Gespräch. Farbenreich erzählte er von der jahrtausendalten Volkskunst von Mithila und den malenden Frauen im Terai von Nepal und Nordindien. Als er mich fragte die Malerinnen besuchen zu wollen, sagte ich begeistert zu. Kathmandu Busstation. Wir fahren mit dem Nachtbus nach Janakpur, in die historische Stadt des ehemaligen Königreichs von Mithila, an der Grenze zwischen Nepal und nordindischen Bundesstaat Bihar. Die nachtschwarzen Augen der in dunkle Tücher gehüllten Fahrgäste blicken neugierig zu mir und meinem Begleiter, old Swami, als wir in den Bus steigenDie letzten Strahlen der Abendsonne tauchen die mit Staub überzogenen Häuserfassaden von Kathmandu in rotes Gold. Das durchdringende Stakkato Gehupe der Nachtbusse, die in alle Richtungen ihre Fahrt antreten, begleiten unsere Abfahrt. Als wir die Stadt verlassen ist die Sonne schon am Horizont verschwunden. Es wird kalt. Ächzend stöhnt der schrottreife Bus die abenteuerliche Straße hinauf, die von Schlaglöcher durchzogen ist und gerade so breit, dass zwei Lastwagen messerscharf aneinander vorbeikommen! Die Lichter vereinzelter Laternen und Feuerstellen sitzen wie glitzernde Erdsterne an den Berghängen. Stundenlang fahren wir durch die Nacht. Voll und rund steht der Mond am Himmel, wirft sein kaltes Licht auf die gewaltigen Bergriesen. Die Sterne funkeln in seltener Klarheit. Gespenstisch eilen die Steinbrocken im Schatten der Nacht vorüber. Still und ruhig sitze ich neben dem alten Mann und lerne die wortlose Sprache des Schweigens kennen. Tiefer Friede und prickelnde Abenteuerlust steigen in mir auf und das wunderbare Glücksgefühl, in mir angekommen zu sein. In steilen, kurvenreichen Windungen zieht sich die Straße bergauf, mal bergab, am ausgetrockneten Flussbett des Trisuli entlang. In der Tiefe unten heben sich die Sandbänke und abgestoßenen Felsbrocken hell vom Flussufer ab. Dahinter steigen in majestätischer Würde gigantische Steinkolosse in den Himmel. Jäh holt mich die Realität aus meiner romantischen Versenkung: scharfes Bremsen, abrupter Halt. Ausweichmanöver, um den Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Lastwagen zu vermeiden. Mein Kopf schlägt hart auf die Lehne des Vordersitzes. Rangieren. Vor, zurück- vor, zurück! Im Zeitlupentempo neigt sich der Bus in gefährlicher Seitenlage Richtung Abgrund. Ich schreie laut auf, springe vom Sitz hoch und bewege meinen Körper instinktiv in die Gegenrichtung, in der Hoffnung das Abstürzen zu verhindern. Angstvoll kreischen andere Reisende. Doch der Bus neigt sich weiter in die Tiefe. Selbst Swami erwacht für einen kurzen Augenblick aus seiner Zeitlosigkeit und fragt mit erstauntem Blick:“ Oh, what`s that"? Der Himmel hat noch einmal Erbarmen mit uns. In meinem Bauch ist ein hohles, schwarzes Loch. Mir ist übel. Erschöpft rolle ich mich auf der durchgesessenen Polsterung des Sitzes zusammen. Eine Frau in der letzten Reihe würgt sich die Seele aus dem Leib. Die Luft ist verbraucht. Es riecht beißend scharf nach Schweiß, Erbrochenem und Urin. Sonst herrscht tiefe Stille. Nach Atem ringend sauge ich die frische Nachtluft ein, die durch den schmalen Fensterschlitz dringt. Seit Stunden sitzt Swami unbeweglich neben mir. Die Beine im Lotussitz überkreuzt. Hin und wieder treffen sich unsere Augen in der Dunkelheit. Alle zwei Stunden holt er aus der Seitentasche seines Hemdes einen kleinen, vergammelten Stoffbeutel heraus. Die von ihm wie eine heilige Handlung ausgeführte Zeremonie der Zubereitung seines Lebenselixiers des Cannabis Produktes Bhang beginnt. Die besondere Mischung der von Swami verwendeten Zutaten konnte ich nie ganz ergründen. Viele Male habe ich schon diesem geheimnisvollen, dem Gott Shiva geweihten Ritual zugeschaut. Und immer wieder fasziniert mich, wie sich Shivas ausgeflippter Asketensohn damit in göttliches Entzücken versetzt. Liebevoll wickelt Swami den von Saft durchtränkten, roten Stoff-Fetzen auseinander. Aus einer länglichen Blechdose nimmt er ein feuchtes Panblatt, legt getrocknete Blüten, Gewürze und kleine Stücke einer Betelnuss dazu. Bedächtig und konzentriert öffnet er den Deckel eines rostigen Döschens. Nimmt eine kalkweiße, schmierige Paste heraus, verstreicht sie sorgfältig auf dem Panblatt. Dann bröselt er kleine, schwarze Kügelchen darauf und wickelt den Stoff seiner Träume in das Blatt. Höhepunkt des Rituals: Er schließt die Augen, legt den Kopf leicht nach hinten, schiebt das grüne Päckchen mit genüsslichem Entzücken in den zahnlosen Mund. Mit pedantischer Sorgfalt packt er alle Zutaten wieder zusammen und steckt sie in die Tasche. Die nächsten zwei Stunden sitzt er wieder schweigend und unbeweglich in zeitloser Ewigkeit da. Mitternacht! Irgendwo zwischen Kathmandu und Janakpur wird endlich eine Pause eingelegt. Zeit um zum Essen und hinter einem Bretterverschlag aufs Klo zu gehen. Hellwach schaue ich auf das nächtliche Chaos um mich herum. Die durchdringenden Gerüche aus zahllosen Garküchen vermischen sich mit den Bleiwolken der an-und abfahrenden Busse zu atemraubenden Stinkbomben. Frauen und Männer, beladen mit Tüten, Holzkisten, Käfigen und Kartons, laufen schreiend durch die Gegend. Langsam gehe ich zum Bus zurück, um auf Swami zu warten. Der Motor läuft schon und mit Entsetzen sehe, ich wie er sich in Bewegung setzt. Mit einem Satz springe ich auf das Trittbrett, halte mich mit beiden Armen an dem Türrahmen fest und schreie: „Wait, wait! Baba is not here”! Verzweifelt versuche ich, auf einem Bein hüpfend, Fahrer und Fahrgästen klar zu machen, dass Swami noch fehlt. Endlich hält der Autobus. Das anschließende Wortgefecht zwischen Fahrer und Swami klingt nicht freundlich. Die Fahrt geht weiter durch die Sternennacht. Allmählich weicht die Bergkette dichtem Dschungel. Wir sind in der Ebene des Terai. Zögernd steigt die Morgendämmerung am Horizont auf. Nach zwölf Stunden Fahrt erreichen wir endlich Janakpur, die legendäre Stadt des untergegangenen Königreichs Mithila.